Meinung | Materiality Madness oder Wesentlichkeits Wirklichkeit?
Bei unserer Nachhaltigkeitsberatung setzen wir uns intensiv mit dem Thema “Wesentlichkeit” auseinander. Eine der häufigsten Suchanfragen auf unserer Homepage ist “Double Materiality Deutsch” (mehr zu Double Materiality hier). In der Beratungspraxis stellen wir fest, dass es zum Teil sehr unterschiedliche Auffassungen dazu gibt was “Wesentlichkeit” bedeutet. So ganz einfach scheint die Frage also nicht zu beantworten zu sein. Oder anders ausgedrückt: Wesentlichkeit gibt es einfach, doppelt, dynamisch, verschachtelt oder ergänzt. Doch welcher Wesentlichkeitsansatz bringt es letztlich auf den Punkt?
Warum Materiality eine zentrale Rolle spielt
Welche Themen sind wirklich wesentlich für unser Unternehmen. Wie können diese Themen bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung angemessen behandelt und priorisiert werden? Vor diesen Fragen stehen viele Unternehmen, die letztlich über eine Vielzahl von Aspekten berichten könnten, die aber nicht alle den gleichen Stellenwert besitzen.
Darf es ein wenig mehr sein?
Stellenweise wünschen wir uns die Konzentration auf das Wesentliche beim Thema “Wesentlichkeit” und wir scheinen mit diesem Wunsch nicht ganz allein zu sein. Im Februar 2022 veröffentlichte die Global Reporting Initiative (GRI) ein Papier mit dem Titel “The materiality madness: why definitions matter“. Die GRI Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung zählen zu den weltweit am häufigsten verwendeten und beruhen auf dem Konzept der doppelten Wesentlichkeit (Double Materiality). Die Hauptbotschaft der GRI in dem Papier haben wir so verstanden: “Macht die Wesentlichkeit nicht zu kompliziert.”
Das Konzept von (Single-)Materiality darf an dieser Stelle sicher als bekannt vorausgesetzt werden. Bei der Double-Materiality gehen die Vorstellungen schon auseinander. Aber was hat es mit “Dynamic Materiality”, “Core Materiality” und “Nested Materiality” auf sich? Wir unternehmen den Versuch einer Einordnung.
- Einfache Wesentlichkeit oder Single Materiality: Die einfache Wesentlichkeit konzentriert sich (häufig) auf den Blickwinkel der finanziellen Wesentlichkeit. Wesentlich sind unter dieser Prämisse jene Informationen, die z.B. einen Investor bei seiner Entscheidungsfindung unterstützen – also solche, die sich auf die ökonomische Leistung eines Unternehmen auswirken können. Häufig wird dies als “Outside-In” Perspektive bezeichnet. Die SEC konzentriert sich beispielsweise auf das Konzept der Single Materiality und priorisiert damit den Investorenfokus vor dem Hintergrund der finanziellen Wesentlichkeit.
- Doppelte Wesentlichkeit bzw. Double Materiality: Das Konzept der “doppelten Wesentlichkeit” berücksichtigt die “Outside-in” (finanzielle Wesentlichkeit) und die “Inside-out”-Sicht (Wirkungsperspektive). Sie ist die Vereinigung von Wirkungsperspektive bzw. Impact Materiality und finanzieller Wesentlichkeit bzw. Financial Materiality. Ein Nachhaltigkeitsaspekt erfüllt also dann das Kriterium der doppelten Wesentlichkeit, wenn er entweder aus der Wirkungsperspektive oder aus der Finanzperspektive oder aus beiden Perspektiven heraus wesentlich ist.
Die vorgeschlagene Richtlinie der Europäischen Union zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) berücksichtigt das Konzept der doppelten Wesentlichkeit” als Kernelement der Nachhaltigkeitsberichterstattung nach dem ESRS (mehr dazu hier). - Dynamische Wesentlichkeit bzw. Dynamic Materiality: Dieser Terminus wurde gemeinsam mit dem Begriff “Core Materiality” von Truevalue (jetzt ein Teil von Fact Set), einem Anbieter von ESG-Daten, in einem im Januar 2020 veröffentlichten Forschungspapier eingeführt. Truevalue zufolge wird das Konzept der Wesentlichkeit immer wandelbarer und fließender – oder anders ausgedrückt dynamischer. Der Begriff wurde auch in einem Weißbuch des WEF, das in Zusammenarbeit mit der Boston Consulting Group im März 2020 veröffentlicht wurde, ausgiebig verwendet.
- Kern-Wesentlichkeit bzw. Core Materiality: Dieser Begriff, der ebenfalls in dem oben erwähnten Papier eingeführt wurde, bezieht sich auf die drei häufigsten Themen, die branchenübergreifend als wesentlich einzustufen sind – Treibhausgasemissionen, Arbeitspraktiken und Unternehmensethik.
- Nested Materiality bzw. Verschachtelte Wesentlichkeit: Dieser Wesentlichkeitsbegriff wurde in dem Paper “Reporting on enterprise value illustrated with a prototype climate-related financial disclosure standard” erwähnt, das im Dezember 2020 gemeinsam von der CDP, CDSB, GRI, IIRC und SASB veröffentlicht wurde. Die Idee des Ansatzes ist es, die verschiedenen Granularitätsebenen von Wesentlichkeitsinformationen der unterschiedlichen Nutzer eines Nachhaltigkeitsberichts zu berücksichtigen. Dieser Ansatz wird als “verschachtelte Wesentlichkeit beschrieben.
Und nun?
Gibt es den besten Wesentlichkeitsbegriff? Brauchen wir viele unterschiedliche Wesentlichkeitsbegriffe, um möglichst aussagekräftige Informationen bereitzustellen? Wir wollen nicht ausschließen, dass es wahrscheinlich für jeden der oben genannten Wesentlichkeitsbegriffe eine passende Nische gibt. Es bleibt dabei aber abzuwarten, ob die mit den unterschiedlichen Konzepten erzielten Ergebnisse auch die Erwartungen der Stakeholder erfüllen. Schließlich ist nicht jeder Stakeholder mit jedem Wesentlichkeitsbegriff gleichermaßen vertraut – was zu Fragen und Unsicherheiten bei der Einordnung der Informationen führen kann.
Das Konzept der doppelten Wesentlichkeit bildet einen Kernbestandteil der Berichterstattung nach GRI wie auch nach dem zukünftigen Europäischen Berichtsstandard ESRS. Beides spricht unserer Einschätzung nach dafür, sich auf dieses Konzept bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung zu konzentrieren. Vor allem auch deshalb, weil es über den Blickwinkel der einfachen Wesentlichkeit, die sich auf die finanzielle Wesentlichkeit beschränkt, hinausreicht und damit eine bessere Einschätzung der Situation ermöglicht. Auch aus dem Stakeholderblickwinkel betrachtet trägt dies zur Vergleichbarkeit der Ergebnisse bei. Diese können sich weiter auf vertrautem Terrain bewegen, was wiederum deren Entscheidungsfindung begünstigt.
Über NordESG
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